Señora Gerta
Gegen das Vergessen
Normalerweise berichten meine Artikel „Gegen das Vergessen“ ja von Verstorbenen Personen die mit dem Nationalsozialismus in Berührung kamen…
Heute möchte ich euch aber mal eine noch lebende Person vorstellen: Gerta Stern.
Kaum zu glauben, dass die Frau auf dem Bild schon 100 Jahre alt ist, oder?
In den Händen hält sie das Manuskript zu ihrer beeindruckenden Lebensgeschichte, die ich vor kurzem lesen durfte.
Ich bin ein Mensch, der immer ohne Schutzumschlag liest, da ich Angst habe, dass er kaputt geht… Und so war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, dass Buch ist gelb wie die Hoffnung… und etwas hoffnungsvolles hat es ja auch…
Schließlich könnte hier ein Mensch vor den Nazis fliehen… und somit überleben…
„Wie kann es sein, dass eine Geschichte, die am einen Ende der Welt stecken geblieben ist, plötzlich zurück auf den Kontinent katapultiert wird, auf dem sie einst begann?“
– Seite 7
Jede Zeile… jeden Satz… Nein, jedes Wort, das man liest, scheint perfekt an seinen Platz zu passen.
Anne Siegel hat hier kein Buch geschrieben. Sie hat Gerta Stern ein literarisches Denkmal gesetzt…
In jedem Wort kann man die großen Gefühle der Autorin ihrer Interviewpartnerin gegenüber spüren. Wie lieb Anne Gerta gewonnen hat… und wie besonders diese alte Dame ist…
„So ist das mit manchen Geschichten. Sie irren durch die Welt, wie Zugvögel, die die Orientierung verloren haben, und erst nach Jahren treffen sie auf einen Menschen, der ihnen gewissermaßen den Weg zum Ziel weist, indem er sie aufschreibt.“
– Seite 9
Anne Siegel hat hier ein Geschichtsbuch erschaffen, hin und wieder unterbrochen von Gertas Leben… herrlich…
Dadurch wird es sicherlich nicht für jeden etwas sein, aber ich persönlich finde es einfach großartig!
Die Geschichte von Gerta ist traurig und wundervoll zu gleich!
Denn Gerta Stern durfte bisher 100 Jahre auf dieser Welt verbringen… 100 Jahre… obwohl es eine Zeit gab in der diese starke und mutige Frau als unwertes Leben betrachtet wurde… weil sie Jüdin ist…
Gertas Leben war mehr als aufregend! Sie selbst schaffte es durch eine gefährliche List ihren geliebten Mann Moses aus dem Konzentrationslager zu befreien.
Und dank dieser mutigen Frau gelang es ihrer Mutter, ihrem Mann und dessen Bruder den Nazis zu entkommen.
Gerta setzte alles auf eine Karte und hatte Erfolg.
Zwar entkamen nicht alle Mitglieder der Familie Stern den Grausamkeiten des Nationalsozialisten, doch Gerta fand mit ihrem Mann eine wundervolle neue Heimat in Panama…
Dort war ihr einiges an Glück und leider auch etwas Schmerz vergönnt… Ein Leben… Gerta durfte ihr Leben leben…
Und dieses Leben verdankte Gerta unter anderem ihrem Schauspieltalent. Schon als Kind stand Gerta auf der Bühne! Sie gewann sogar einen Wettbewerb, um das wienerische Pendant des amerikanischen Jackie Coogan zu werden. Gerta wollte so gerne eine große Schauspielerin werden. Das dieses Talent einmal ihre Familie retten sollte, das hatte Gerta wohl nicht erwartet.
Als ihr Mann Moses in der Nacht vom 09. auf den 10.November von der SA verhaftet wurde, gab Gerta nicht auf und verzweifelte.
Nein, sie klopfte an die Tür jedes Konsulats in der Hoffnung auf Hilfe. Diese Hilfe kam letzten Endes in der Kleidung eines Parteimitglieds auf sie zu. Herr Otto, der bis heute nicht gefunden worden konnte, hatte ein offenes Ohr für die junge Jüdin und gab ihr auch den hilfreichen Tipp mit dem Konsulat von Panama! Und auch die in diesen Zeiten nicht mehr allzu einfache Ausreise machte der unbekannte Helfer möglich!
Nun musste Gerta nur noch ihren Mann zurückbekommen. Und das schaffte sie durch ein Verwirrspiel auf höchstem Niveau:
Entschlossen betrat sie das Hamburger Gestapo-Hauptquartier und spielte dort die resolute, leicht wirre Österreicherin mit nahezu unverständlichem Dialekt. Sie behauptete einfach, die Verhaftung ihres Mannes sei ein Versehen, da sie ja nur auf der Durchreise seien und Visa für Südafrika hätten. So bekam Gerta einen verprügelten, aber lebendigen Moses Stern aus dem KZ Sachsenhausen frei…